Schlafwandler 2.0 - Geopolitik in der Polykrise

Schlafwandler 2.0 - Geopolitik in der Polykrise


Es ist eine verrückte Welt, in der wir derzeit leben. Und wir haben uns wieder einmal getäuscht: Wir haben gedacht, schwarze Schwäne seien Einzelgänger. Jetzt stellen wir plötzlich zu unserem Entsetzen fest: Sie treten scheinbar in Schwärmen auf. Und daraus ergeben sich eine ganze Reihe fundamentaler Einsichten, die in der tagtäglichen medialen Hetze unterzugehen drohen. Denn viele dieser vermeintlich schwarzen Schwäne sind gar nicht so schwarz, wie man denken könnte; man muss nur bereit sein, unliebsame Nachrichten und Zusammenhänge zu erkennen.

Bei den derzeitigen geopolitischen Umbrüchen ist es folglich schwer, den Überblick zu behalten. Die nachfolgenden sieben Überlegungen versuchen Hinweise zur besseren Orientierung in einer Welt im Umbruch zu geben.

1. Die Welt ist nicht multipolar, sondern längst bipolar.

Auch wenn der deutsche Bundeskanzler in seinen Reden wiederholt von einer multipolaren Welt spricht, steckt dahinter lediglich Wunschdenken. In Wirklichkeit ist die Welt, in der wir leben, längst bipolar. Gebildet werden die beiden Pole von den USA, der innenpolitisch zerrütteten Vormacht des Westens, und der Volksrepublik China, dem selbstbewussten Aufsteiger an der Spitze zunehmend machtbewusster Autokraten. Auf einer Ebene tiefer beobachten wir vielfältige Machtzentren, die zwischen den beiden Polen lavieren oder wählen können. Zu den einflussreichsten dieser Machtzentren dürften Staaten wie Russland, Indien, Brasilien, Saudi-Arabien, der Iran – und vielleicht auch die Europäische Union gehören. Wer politikwissenschaftlichen Jargon mag, könnte die derzeitige Weltordnung mit dem Begriff „polyzentrische Bipolarität“ beschreiben.

Unabhängig von Begrifflichkeiten: Wir leben in einer Weltordnung im Übergang und damit den Zeiten, die von vielfachen und sich verstärkenden Risiken bestimmt sind. Gleichzeitig geht die Dominanz des Westens erkennbar zu Ende.

Infografik: China investiert vor allem in den USA | Statista Quelle: Statista

2. Der Club der Autokraten fordert offensiv das Ende der westlichen Vormachtstellung heraus.

Wer nur scheinbar zusammenhanglose Einzelereignisse verfolgt, verkennt die Grundstrukturen geopolitischer Machtverschiebung. Unter der Führung Chinas hat längst ein Prozess alternativer Institutionenbildung begonnen, der bislang oder überhaupt westlich dominierte Institutionen herausfordern soll.

Vor allem Chinas globale Expansion schreitet zügig weiter voran.

  • SCO (Shanghai Cooperation Organization), gegründet auf Initiative Chinas mit 8 Mitgliedstaaten (China, Indien, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan), 4 Beobachtern (Afghanistan, Belarus, Iran, Mongolei) und 6 Dialogpartnern (Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka, Türkei)
  • BRI, die „Belt and Road Initiative“, hat zwar nicht alle Erwartungen erfüllt, aber doch wesentlich dazu beigetragen, dass sich Chinas globaler Einfluss deutlich verstärkt hat.
  • BRICS+6, haben seit der Erweiterung um Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien auf dem diesjährigen Gipfeltreffen in Johannesburg in der Tat wenig gemeinsam – außer dass sie vereint sind in der Entschlossenheit, keine Diktate des Westens (vor allem in Menschenrechtsfragen) mehr zu akzeptieren.
  • RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), die noch in den Anfängen stehende weltgrößte Freihandelszone im asiatisch-pazifischen Raum – unter Ausschluss der USA!

Dagegen sind die Vereinten Nationen gelähmt, die WTO in die Bedeutungslosigkeit versunken und die Weltbank vermag sich nur mit Mühe gegen ihre autokratischen Konkurrenten zu behaupten.

3. An den östlichen Rändern des europäischen Westens toben Kriege.

Noch sind es scheinbar einzelne Ereignisse. Aber die Konturen des Zusammenwachsens zu einem Weltkonflikt sind bereits erkennbar. Der Feuerring militärischer Aggression erstreckt sich von der Ukraine über Armenien und Aserbeidschan, bis zum Iran, der Hamas und Israel. Wir leben in Zeiten des Krieges, nachdem wir in Europa (mit Ausnahme des Balkans in den 90er Jahren) das Privileg eines jahrzehntelangen Friedens genießen durften. Die wachsenden Risiken eines globalen Konfliktes zwischen den machtpolitischen Polen werden durch Chinas immer forscheres Auftreten im südchinesischen Meer im Schatten der globalen Medienberichterstattung ergänzt.

Hinzu kommt, dass die sicherheitspolitische Großwetterlage immer problematischer wird.

4. Die Kriege der Gegenwart lassen sich verlieren, aber kaum mehr gewinnen.

Unter Führung der USA haben westliche Staaten alle Kriege, die sie seit dem vermeintlichen Sieg im Kalten Krieg 1.0 geführt haben, verloren. Die Liste reicht von Afghanistan, über den Irak bis Libyen und Syrien. Kriege lassen sich nur erfolgreich beenden, indem sie entweder gewonnen oder in Friedensverhandlungen beendet werden. Diese können aber nur erfolgreich sein, wenn sie auf Kompromissen und nicht auf einseitiger Interessendurchsetzung beruhen. Sätze wie die häufig gehört Forderungen aus mehr oder weniger kompetentem Politikermund „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“ sind verantwortungslos und realitätsfremd. Das Risiko einer finalen Eskalation ist im Falle Russlands nicht auszuschließen. Gegen eine Atommacht, deren Elite nicht verlieren darf, ohne ihre Macht zu verlieren, gewinnt man in letzter Konsequenz keinen Krieg. So einfach ist die heutige Welt.

5. Frieden gibt es nur dort, wo es gesicherte Grenzen gibt.

Überall dort, wo Grenzen infrage gestellt werden, brechen traditionelle Grenzkriege aus, die allerdings mittlerweile globale Ausstrahlungskraft haben. Die Beispiele sind vielfältig: Russland und die Ukraine, Armenien und Aserbeidschan, Serbien und Kosovo, Israel und die Palästinenser, China und Taiwan – die Liste ist fast beliebig verlängerbar.

6. Deutschlands Chinastrategie führt in die falsche Richtung

Infografik: Hier investiert China in Europa | Statista Quelle: Statista

In diesen Tagen besuchen vermehrt chinesische Delegationen Berlin und andere deutsche Städte. Sie alle sind an der Frage interessiert, was die deutsche Chinastrategie nun genau bedeutet. An vielen Stellen finden sie es aber schwierig, überhaupt Ansprechpartner zu finden. Bundestagsabgeordnete scheuen den Kontakt, um nicht in den Verdacht zu geraten, zu chinafreundlich zu sein. Universitäten verweigern Besuchstermine, weil sie befürchten in den Medien wegen ihrer Kontakte kritisiert zu werden. Eine ideologisierte Außenpolitik droht den notwendigen Dialog ausgerechnet in Zeiten zu verhindern, in denen es – gerade nach der schwierigen Zeit der Pandemie – notwendiger wäre denn je, den Dialog zu intensivieren, um der drohenden Zweiteilung der Welt entgegen zu wirken.

Und so lässt sich mit dem Handelsblatt (27.20.2023) nur das Fazit ziehen: „Abschottung, Protektionismus, industriepolitischer Egoismus sind die Konstanten einer neuen Wirtschaftspolitik – im Westen wie im Osten.“

7. Es braucht Verhandlungslösungen, wenn wir verhindern wollen, dass die Welt wie vor 100 Jahren schlafwandlerisch in eine Katastrophe schlittert.

Das moralische Überlegenheitsgefühl erlaubt es in der derzeitigen Diskussion nicht, eine simple Wahrheit auszusprechen, die darin besteht, dass man auf der Suche nach Kompromisslösungen auch Aggressoren etwas zugestehen muss. Das muss man nicht mögen, wohl aber bedenken, dass täglich tausende Menschen sterben bis diese simple Wahrheit sich durchsetzt. In der medialen und moralisch verständlichen Aufregung unserer Zeit verbietet sich das notwendige Maß an Differenzierung, das Voraussetzung wäre, um zu pragmatischen Lösungsansätzen zu finden.

Fazit:

Das zentrale Risiko unserer Zeit besteht darin, dass wir wie Schlafwandler die Fehler aus dem Weg in den ersten Weltkrieg vor über 100 Jahren wiederholen könnten. Im Moment gibt es einzelne Krisenherde, die für sich genommen keine Bedrohung des globalen Friedens darstellen. Aber niemand vermag ausschließen, dass getrieben durch den Grundsatzkonflikt zwischen demokratischen Staaten des Westens und den machtpolitischen Herausforderern im „Club der Autokraten“ ein Zusammenwachsen dieser Konflikte zu einer globalen Konfrontation möglich sein könnte.

Und eine weitere Schlussfolgerung aus den derzeit beobachtbaren geopolitischen Umbrüchen lautet: Das deutsche Wohlstandmodell droht in einer regelrechten Polykrise zu scheitern.

Infografik: Handelskrieg mit China wäre teuer für Autoindustrie | Statista Quelle: Statista

Deutschlands Wohlstand beruhte in der jetzt vergangenen Phase der Globalisierung auf drei Säulen: auf technologischem Vorsprung, qualifizierten Arbeitskräften und offenen Märkten. Alle drei Säulen sind derzeit am Zerbrechen. Spitzentechnologie wird längst in China produziert, Facharbeitermangel ist mittlerweile geradezu sprichwörtlich und offene Märkte gehören der Globalisierung von gestern an.

 „De-Risking“, Risikomanagement und Hedging gewinnen in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung. Und natürlich: Die Bedrohungen des Klimawandels sind unbestreitbar, aber die Risiken eskalierender geopolitischer Konfrontation drohen immer mächtiger zu werden.

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