
Geopolitische Risiken im 3. Quartal 2023 - Strategische Konsequenzen für Unternehmen und Investoren
Executive Summary
- In der zweiten Jahreshälfte 2023 ist Deutschland zunehmend mit den wirtschaftlichen Kosten der Zeitenwende sowie der unerwartet deutlichen Abschwächung des chinesischen Wachstums konfrontiert.
- Während die Ukraine-Offensive zunehmend in einen Abnutzungskrieg mündet, rücken mit dem Beginn des Vorwahlkampfes in den USA auch die Unsicherheiten über die langfristige Orientierung amerikanischer Sicherheits- und Außenpolitik wieder in den Vordergrund. Trump dominiert unverändert das Kandidatenfeld der Republikaner, aber gleichzeitig intensivieren sich rechtliche Initiativen, ihn an einer Kandidatur zu hindern.
- Zusammen mit der Wahl des Europaparlaments wird das Jahr 2024 zu einem „Superwahljahr“. In der kurzen noch verbleibenden Zeit treibt die US-Administration Verhandlungen im Nahen Osten sowie ihre diplomatischen Entspannungsinitiativen Richtung China voran, während die EU Kommission Einigung mit den USA bei wesentlichen industrie- und handelspolitischen Fragen zu erreichen sucht.
- Der mittelfristige Makroausblick bleibt von Inflationsdruck und den globalen Kosten geoökonomischer Anpassungsprozesse geprägt. Die Gipfeldiplomatie von BRICS und G20 unterstreicht die wachsende Bipolarisierung der Weltpolitik.
Russland-Ukraine Invasion: vom Blitzkrieg zum Abnutzungskrieg
Mehr als 500 Tage seit Russlands Invasion der Ukraine, hat sich der Konflikt zu einem Abnutzungskrieg entwickelt, in dem die systematische Zerstörung gegnerischen Materials wichtiger als kurzfristige Geländegewinne sind. Der Ukraine bleiben in ihrer jetzigen Gegenoffensive noch wenige Wochen für nennenswerte Geländemanöver, bevor die Regenperiode Truppenbewegungen erschwert. Der wesentliche Faktor für den weiteren Kriegsverlauf sind die fortgesetzte Ausrüstung sowie dessen technologisches Upgrade der Ukraine mit Artilleriekapazität durch den Westen. In den kommenden Wochen ist eine Entscheidung des Kanzleramtes und des Weißen Hauses zur Lieferung weiterer Marschflugkörper (Taurus) bzw. Kurzstreckenraketen (ATACMS) zu erwarten. Die Ukraine hat mit den Aussagen von Zelensky zu einem möglichen internationalen Statut der Krim trotz des späteren Dementis die militärischen Ziele der Ukraine modifiziert. Das diplomatische Kalkül Russlands wird im kommenden Jahr von der militärischen Dynamik und der US-Präsidentschaftswahlen geprägt sein.
Sino-Westliche Beziehungen: Diplomatie und De-risking
Die Biden Administration sucht die Beziehungen zwischen China und dem Westen in einem Balanceakt aus De-risiking, Deterrence und Diplomatie zu stabilisieren. Nach der Einigung der G7 im Mai auf ein De-risking wirtschaftlicher Beziehungen zu China erließ Präsident Biden eine Executive Order für einen Screeningmechanismus für Auslandsinvestitionen in China, dem die Europäische Kommission zum Ende des Jahres voraussichtlich mit einem eigenen Vorschlag folgen wird. Entgegen verbreiteter Erwartungen entspricht der amerikanische Vorschlag mit einem Fokus auf relevante Hi-Tech Bereiche wie KI oder Quantentechnologie weitgehend dem von Jake Sullivan formulierten „small yard, high fence“ Prinzip.
Nach der US-Diplomatieoffensive der vergangenen Wochen wird damit gerechnet, dass es im November zu einem Gipfeltreffen zwischen Xi Jinping und Joe Biden in San Francisco am Rande der Asia-Pacific Economic Cooperation-Konferenz kommen könnte.
Das Sino-amerikanische „Tauwetter“ bleibt jedoch anfällig für unerwartete Eskalationen – mit Taiwan als dem gefährlichsten Krisenherd. Aktuelle Umfragen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Taiwan im Januar 2024 sehen den Kandidaten der regierenden Democratic Progressive Party (DPP) vorn. Ein erneuter Sieg der unabhängigkeitsfreundlichen DPP würde die Perspektive auf eine friedliche Eingliederung Taiwans in die Volksrepublik weiter in die Ferne rücken und könnte die Kommunistische Partei auf einen noch konfrontativeren Kurs gegenüber Taiwan einstellen.
Auf die unerwartet schleppende Erholung der chinesischen Wirtschaft nach dem Ende der Zero-Covid Politik reagiert die chinesische Regierung bisher nicht mit einer wesentlichen Kursumkehr. Die Schwäche des Immobilienmarktes dämpft die Binnennachfrage und erhöht das Risiko einer krisenhaften Entwicklung in Chinas Finanzsystem. Dennoch hat Generalsekretär Xi Jinping noch in seinem Arbeitsbericht für den 20. Parteikongress faktisch die Priorität von Sicherheit und Stabilität über Wachstum postuliert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Regierung alles tun, um die Immobilienblase nicht platzen zu lassen, sondern sie über Jahre allmählich kontrolliert zu entleeren.
US-Präsidentschaftswahlen: Er ist wieder da
In den kommenden Monaten wird sich der Fokus amerikanischer Politik zunehmend auf den Präsidentschaftswahlkampf 2024 verschieben. Ein erneuter Showdown zwischen Biden und Trump im November 2024 wird immer wahrscheinlicher. Während Umfragen aus den relevanten Battleground States zum jetzigen Zeitpunkt noch rar gesät sind, sehen nationale Umfragen Trump und Biden statistisch gleich auf. Gleichzeitig werden neben Trumps sechs laufenden Gerichtsverfahren derzeit Klagen mit dem Ziel eingereicht, den ehemaligen Präsidenten unter dem 14. Zusatzartikel der US-Verfassung zu disqualifizieren. Dieser verweigert Bürgern, die als Militärangehörige oder Amtsträger einen Eid auf die Verfassung geschworen haben, das Recht, für ein Wahlamt zu kandidieren, sollten sie einen Aufstand gegen die USA und deren Verfassung unterstützt haben.
Angesichts der verschärften Polarisierung besteht ein erhöhtes Risiko, dass es bis zum Frühjahr kommenden Jahres erneut zu einem Government Shutdown kommt, bei dem weite Teile der behördlichen Tätigkeiten nationaler Ministerien und ihrer Ämter zum Erliegen kommen, bis der Kongress sich auf eine Haushaltsfinanzierung der Ministerien einigt. Bereits jetzt hat der Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, erhebliche Schwierigkeiten, seine republikanische Mehrheit gegen die Angriffe von Rechtsaußen zu verteidigen.
Gleichzeitig werden Präsident Biden und die Kommissionspräsidentin von der Leyen versuchen, noch bestehende Handelsdispute vor dem Ende ihrer jeweiligen Amtszeiten beizulegen. Dabei steht derzeit ein Agreement zu Handelskooperation bei seltenen Erden im Fokus, welches in der EU ansässigen Unternehmen erlauben würde, von IRA-Subventionen für EV- Batterien zu profitieren. Auf der anderen Seite dürfte es zu einer Grundsatzeinigung zur Beilegung eines US-EU Zollstreites zu Stahl und Aluminiumexporten kommen. In diesem Zusammenhang wird auch an einer Koordination möglicher Handelsrestriktionen gegen chinesischen Stahl- und Aluminiumexporte gearbeitet. Diese würden vor dem Hintergrund der angekündigten Untersuchung chinesischer Subventionen für den EV-Sektor durch die Europäische Kommission weitere Spannungen in das Sino-europäische Handelsverhältnis bringen.
BRICS+6 und G20
Auf globaler Ebene war im abgelaufenen Quartal der BRICS-Gipfel in Südafrika ein wenig beachtetes, aber maßgebliches Ereignis. Durch die Erweiterung um sechs weitere Länder Iran, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Ägypten, Äthiopien, Argentinien) dokumentiert ein Format, das ursprünglich in einer Goldman Sachs Studie benannt wurde, dass es insbesondere Aussicht Chinas und Russlands ein institutionelles Gegengewicht zu den von Westen dominierten globalen Institutionen werden soll.
Auf dem G20-Gipfel in Indien setzte sich die Konfrontation fort. Zwar konnte mit der Afrikanischen Union ein weiteres Mitglied formal aufgenommen werden, eine explizite Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine war jedoch nicht durchsetzbar. Die Staaten forderten sich lediglich gegenseitig auf, auf Angriffe gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit anderer Staaten zu verzichten und verurteilten indirekt Atomwaffendrohungen. Diese halbgare Formulierung wurde in der internationalen Presse überwiegend als Sieg für Putin und als Misserfolg des Westens gewertet.
Eine andere Initiative am Rande des Gipfels zeigt die zunehmende Frontstellung gegen China. Das Handelsblatt schreibt: „Noch ist es nur eine Absichtserklärung, aber eine von geopolitischer Bedeutung. Die EU, die USA, Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben beim G20-Gipfel in Neu-Delhi vereinbart, einen neuen Transportkorridor zwischen Indien und Europa in Angriff zu nehmen. Dieser soll den Warentransport um mehrere Tage beschleunigen und neue Leitungen für den Transport von Strom, Wasserstoff und Daten umfassen. Damit wollen die Teilnehmer zugleich dem wachsenden Einfluss Chinas in der Region etwas entgegensetzen.“
Die zentralen Ereignisse des abgelaufenen Quartals dokumentieren das weitere Voranschreiten in Richtung einer bipolaren Weltordnung, dominiert durch die USA und China, in die sich die übrigen Staaten in zuweilen auch in wechselnden und sich überschneidenden Kooperationen werden einordnen müssen.
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