Nachhaltigkeit: Der ESG-Realitätsschock

Nachhaltigkeit: Der ESG-Realitätsschock


ESG-Anlageprodukte, die Investments in Bezug auf Umwelt, Soziales und Governance bewerten, erfreuten sich bis vor wenigen Jahren großer Beliebtheit. Zunehmend mehr Menschen wollten mit ihren Investments einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft und die Umwelt ausüben.

Herausforderungen und Widersprüche der ESG-Investments

Das nachhaltige Anlagestrategien automatisch auch dem Ertrag zugutekommen, hat sich als Trugschluss erwiesen. Bei den Investmentfonds mit dem Label „Nachhaltig“ und „ESG“ hinken viele der allgemeinen Marktentwicklung hinterher; viele Produkte haben Minus produziert, obwohl der Gesamtmarkt stieg. Aktien von Unternehmen, die sich auf Umweltthemen spezialisiert haben, sind teilweise in den freien Fall übergegangen. Das war zu viel für viele Anleger. In der Branche herrscht Ernüchterung. Mittlerweile wurde wieder viel Geld aus ESG-Produkten abgezogen. Diverse Greenwashing-Skandale, bei denen Unternehmen hinter den Kulissen wider ihren vollmundigen Klimaversprechen handeln, tragen nicht dazu bei, das Vertrauen in das junge Thema zu stärken.

Portfoliomanager stehen auch vor einem Dilemma: bei der Definition des Begriffs Nachhaltigkeit besteht nach wie vor Wildwuchs und Uneinigkeit. Beispielsweise dürfte in Deutschland für die meisten Menschen Kernkraft als absolutes Tabu gelten – schon aufgrund der ungelösten Lagerung der Atomabfälle. In Frankreich oder angelsächsischen Ländern gilt diese Art der Energieerzeugung in weiten Kreisen dagegen als umweltschonend, weil keine CO2-Emissionen ausgestoßen werden.

Ebenso gelten Waffen und Rüstungsindustrie für viele als no go – zumindest bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Auf einmal rückt eine mögliche externe Bedrohung ziemlich nahe heran und man wird daran erinnert, dass Waffen – leider – immer noch wichtiger Bestandteil einer demokratisch legitimierten Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein können. Ihr bloßes Drohpotenzial kann kriegerische Auseinandersetzungen unwahrscheinlicher machen. So unerfreulich das auch ist, kann es im Sinne eines dauerhaften Friedens im Ergebnis das kleinere Übel sein – Rüstung sozusagen als nachhaltiger Sicherheitsgarant.

Aus einer Nachhaltigkeits-Perspektive wird man sich ernsthaft fragen müssen, ob die scheinbaren Gewissheiten von gestern den Realitäts-Test auch morgen noch bestehen. Was sollen die maßgeblichen Kriterien für Nachhaltigkeit sein? Ethisch-moralische Integrität, staatlich-politische Stabilität, Versorgungssicherheit, Umwelt- und Klimaschutz? Und jeweils bezogen auf Deutschland, oder die EU, oder darüber hinaus? Während es keine Zweifel darangeben kann, dass der Klimawandel, und damit verbunden der Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen allgemein, die große Gegenwartsherausforderung im globalen Maßstab ist und bleibt, kommt man bei fast allen anderen Themen unvermeidlich in den Bereich subjektiver Wertungen – ob aus staatlich-politischer, unternehmerischer oder individuell-persönlicher Sicht. Das zeigt sich auch bei Nachhaltigkeits-Ratingagenturen, die bei denselben Aktiengesellschaften teilweise zu völlig unterschiedlichen Bewertungen gelangen.

Im Video: Nachhaltigkeit und ESG bei der Geldanlage: Warum blickt da keiner mehr durch?

Nachhaltigkeit ist für viele Investoren zu einem wichtigen Anlage-Kriterium geworden. Jedoch scheint hierbei nahezu jeder Fonds und jede Bank etwas anderes zu machen. Keiner blickt mehr durch. Woran liegt das? Und können Portfolios unabhängig und neutral in diesem Bereich zertifiziert werden? Fragen dazu von Börsenmoderator Andreas Franik an Dr. Dirk Rathjen, Vorstand des Instituts für Vermögensaufbau (IVA) AG.

Schon vor Jahren kam eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu dem Ergebnis, dass zwischen den ESG-Bewertungen der verschiedenen Nachhaltigkeits-Ratingagenturen kaum Korrelationen bestehen. Außerdem stammen die zugrundeliegenden Informationen und Daten in der Regel von den Unternehmen selbst. Sie haben es also zu einem guten Teil selbst in der Hand, wie sozial und ökologisch sie sich präsentieren.

Beispiele

Beispiel Raytheon: Eine renommierte Nachhaltigkeits-Ratingagentur stuft den amerikanischen Rüstungsproduzenten auf einer ESG-Skala von AAA bis CCC mit A ein, da das Unternehmen, unter anderem den Strom- und Wasserverbrauch sowie die CO2-Emissionen laut Nachhaltigkeitsbericht reduziert hat. Raython produziert unter anderem Raketen, Torpedos und Marschflugkörper und müsste eigentlich bei der Anwendung halbwegs ernsthafter Ausschlusskriterien aus jedem nachhaltigen Anlageuniversum rausfliegen – wohlgemerkt, das Rating orientiert sich an allgemeinen Verbrauchsdaten, nicht an den Produkten des Unternehmens.

Ein weiteres Beispiel ist Rio Tinto: Auch diesen Minenkonzern bewertet die genannte Nachhaltigkeits-Ratingagentur in Bezug auf ESG mit A, obwohl dem Unternehmen Verstöße gegen die Umwelt und die Arbeitsrechte vorgeworfen werden. So hat der australisch-britische Konzern in Westaustralien Kulturstätten der Ureinwohner gesprengt, woraufhin der CEO zurücktreten musste. Außerdem versuchte Rio Tinto in der Vergangenheit immer wieder Beschäftigte davon abzuhalten, Gewerkschaften beizutreten. Eine gute Unternehmensführung sieht wohl anders aus.

Fazit

Es wird immer deutlicher: Nachhaltigkeit ist kein allgemeingültiges Konzept, es gibt keine allgemeinverbindliche Definition. ESG-Ratings können bei der Selektion nachhaltiger Aktien und Anleihen hilfreich sein, aber sie bleiben oft widersprüchlich.

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