
Umbruch in den Tiefenstrukturen der Weltpolitik
Die bisher gefundenen Antworten auf multiple globale Krisen, die eigentlich einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit bedürften, besteht in vielen Fällen – und gerade bei den wesentlichen staatlichen Akteuren – in einer Rückbesinnung auf nationalstaatliche Alleingänge, den Verzicht auf Kooperationsnotwendigkeiten und einseitige Interessendurchsetzung auf Kosten einer effektiven Krisenbewältigung. Verstärkt werden diese Trends durch weitverbreitete Angebote vermeintlich „einfacher“ Lösungen, die radikale politische Akteure in vielen Staaten an die Macht spülen.
In der medialen Hektik wird häufig übersehen, dass eine der wichtigsten geopolitischen Veränderungen des Jahres 2022 durch erhebliche Umbrüche in den Tiefenstrukturen der Weltpolitik geprägt ist. Aus einstigen Garanten globaler Wohlstandsmehrung sind mittlerweile Waffen zur Wohlstandsvernichtung geworden.
Die Geopolitik des 21. Jahrhunderts beginnt sich zu entfalten und sie zeigt eine Welt in der Notfallökonomie, wachsende Aggression und das Ende multilateraler Kooperation die Grundstrukturen internationaler Politik zu bestimmen drohen.
Multiple Krisen
Seit dem Platzen der Dotcom Blase zu Beginn des Jahrtausends und erst recht seit dem 11. September 2011 wird die Welt des Westens von einer Serie von schweren politischen und wirtschaftlichen Krisen heimgesucht, die alle die Unart haben, nicht zu Ende zu gehen, wenn die nächste Krise heranrollt und die öffentliche Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Krisen überlagern und verstärken sich und haben gerade im Jahr 2022 eine Intensität erreicht, die die „normale“ Regelungskapazität von politischen Systemen zu überschreiten droht.
Die andauernde Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der zunehmend kontrovers geführte Konflikt zwischen China und den USA, aber auch die weniger öffentlich wirksamen Aktivitäten von Staaten wie dem Iran und Nordkorea kennzeichnen die sicherheitspolitischen Entwicklungen. Sie werden ergänzt durch immer schwerere ökonomische Krisenverläufe: gefährdete Lieferketten durch die immer noch andauernde Pandemie, eine sprunghaft steigende Inflation, eine ungelöste Energiekrise, eine drohende und wohl schon eingetretene Rezession im globalen Maßstab, Überschuldungsprobleme vieler Staaten und nicht zuletzt die gerade im Sommer 2022 in vielen Ländern spürbaren unmittelbaren Folgen der Klimakrise bilden eine Mosaik von Überforderungen, auf die moderne Staaten mit Abwehrmaßnahmen reagieren, die zumindest bislang keine effiziente Lösungswege aufgezeigt haben.
Zu erwarten sind steigende Migrationsströme und die negativen Folgen von Fremdenfeindlichkeit und Politikverdrossenheit, die gerade in den demokratischen Staaten des Westens den Anbietern vermeintlich „einfacher“ ideologischer Lösungen in die Hände zu spielen scheinen. Die Politik in Polen und Ungarn und mittlerweile auch in Schweden, Italien und Großbritannien lässt erahnen, welche mittel- und langfristigen Folgen die Krisenüberlastung politischer Systeme haben kann. Zurecht schaut die Welt deshalb mit Sorge auf den Wahlausgang in den USA in den „midterm elections“ im November 2022 und darüber hinaus auf die Präsidentschaftswahl 2024.
„Weaponization“
Die Hektik der Tagesberichterstattung über einzelne Aspekte der genannten Krisenüberlastung und natürlich die ständige Berichterstattung über den Kriegsverlauf in der Ukraine lassen allzu leicht übersehen, was wohl zu den wichtigsten Umbrüchen dieses Epochenjahres 2022 gehören dürfte. Die derzeit in Deutschland laufende Debatte um die Reduktion von Abhängigkeiten (insbesondere von China) lässt allzu schnell übersehen, dass Abhängigkeiten die Grundlage unseres Wohlstandes waren und sind. Sie auf Gedeih und Verderb beseitigen zu wollen, weil der Zeitgeist, propagiert von hyperaktiven Politikern oder aufgeregten Medien, es verlangt, heißt mittel- und langfristig Wohlstand zu zerstören. Diese Botschaft des Jahres 2022 ist längst noch nicht bei allen angekommen.
Verschärft wird diese Botschaft durch eine Entwicklung, die zu den prägendsten in den Tiefenstrukturen der Geopolitik des Jahres 2022 gehört. Im Englischen wird sie mit dem nur schwer ins Deutsche zu übersetzenden Begriff „weaponization“ belegt. Die Grundlage unseres Globalisierungserfolges war die freie Verfügung von Ressourcen, ungehinderte Finanzströme und nicht zuletzt technologischer Fortschritt. All diese Globalisierungstreiber von gestern werden heute zu Globalisierungsvernichtungswaffen umfunktioniert:
- Der amerikanische Präsident setzt Verbote des Chip- und Hochtechnologieexports nach China (sehr zu Lasten auch europäischer Unternehmen wie ASML) als Waffe ein, um Chinas technologischen und damit auch politischen Aufstieg, wenn schon nicht gänzlich aufzuhalten, so doch wenigstens deutlich zu verlangsamen.
- Die Demokratien des Westens setzen den Ausschluss Russlands von internationalen Finanzsystemen als Sanktionswaffe ein, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands zu sanktionieren.
- Und Russland kontert, indem es in bisher ungekanntem Maße Gas- und Ölressourcen seinerseits als Waffe gegen den Westen einsetzt, um sich in dem machtpolitischen Konflikt um die Ambitionen seines Präsidenten behaupten zu können.
Annus horribilis
Das ist das Erbe eines Jahres, dass wohl als „schreckliches“ in die Geschichte eingehen wird (obwohl niemand zu prognostizieren vermag, ob die Jahre 2023 und 2024 Besseres bringen werden). Es markiert in der Tat einen Epochenbruch. Die geopolitischen Verschiebungen, die 2022 aufgebrochen sind oder auch nur sichtbar wurden, werden die kommenden Jahre und Jahrzehnte prägen. Und klar geworden ist auch, dass Geopolitik kein Hobby für begeisterte Interessenten ist, sondern Grundbestandteil einer jeglichen Strategieentscheidung für Politik, Unternehmen, Investoren und Anleger.
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