
IT-Branche: Chancen und Gefahren für Anleger

Bitte erklären Sie mir als Laien in wenigen Sätzen Struktur, größte Chancen und Risiken der Anlage in börsennotierten IT- und CS-Unternehmen.
Tobias Koch: Risiken und Chancen sind wie bei allen Branchen abhängig von der gewählten Assetklasse (Einzelaktie, passiver oder aktiver Branchenfonds, Diskountzertifikat, Unternehmensanleihe, etc.). Durch die zunehmende Bedeutung des Sektors sind in den vergangenen Jahren immer mehr themenbezogene Produktvarianten emittiert worden. Meist handelt es sich um sogenannte „Growth“-Titel, bei denen der Wachstumsaspekt im Vergleich zur Bewertung im Vordergrund steht und sich meist in einem überproportionalen Kursanstieg im Verhältnis zu klassischen Indizes widerspiegelt. Die Erfüllung der Quartalsziele und der Ausblick spielen daher eine große Rolle. Eine restriktive Geldpolitik, stockende Innovationskraft und eine Enttäuschung bei der Veröffentlichung der Quartalsergebnisse können zu deutlichen Kursabschlägen führen.
Welche börsennotierte Unternehmen der IT-Branche sind neben den bekannten Größen wie Facebook, Apple oder Amazon (“FAANG”) am Markt vertreten und interessant auch für das Portfolio mittelständischer Unternehmen der Region?
Koch: Bei über 43.000 börsennotierten Unternehmen weltweit ist der Anteil der IT-Branche nicht zu unterschätzen und beschränkt sich daher nicht nur auf die allbekannten “FAANG”-Aktien (Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google). Allein der amerikanische NASDAQ 100 bildet die im Hinblick auf die Marktkapitalisierung größten 100 Technologieunternehmen ab. Je nach Region, Branchennische und Marktkapitalisierung gibt es verschiedene Investitionsmöglichkeiten. Je nach Risikoappetit und Korrelation zum eigenen Geschäftsfelds können IT-Dienstleister auch den Weg in das für nicht benötigte Liquidität vorgesehene Depot von mittelständischen Unternehmen finden. Mehrheitlich gilt, dass IT-Unternehmen mit einer größeren Marktkapitalisierung zwar weniger Wachstumsperspektive bieten, aber in volatilen Zeiten auch geringe Ausschläge nach unten aufweisen.

Welche Rolle spielt hier SAP, das einzig deutsche Unternehmen, das mit dem Thema Software eine Rolle auf dem Weltmarkt spielt?
Koch: Europas größter Softwarekonzern befindet sich seit 2020 in einem Umstrukturierungsprozess vom lukrativen, aber wenig flexiblen Lizenz-Geschäft zum Cloud-Dienstleister. Diese Transformation ist mit hohen Investitionskosten verbunden. Im Vergleich zur amerikanischen Konkurrenz wie zum Beispiel Oracle und Salesforce führt dies zu deutlichen Bewertungsabschlägen an der Börse. Der höhere Bürokratieaufwand in Europa ist in diesem Zusammenhang nicht zu vergessen. Wenn SAP diesen Weg meistert, kann man auch in Zukunft eine Rolle am Weltmarkt spielen.
Würden Sie Tesla in diese Riege mit aufnehmen?
Koch: Tesla ist aufgrund des Personenkults von Elon Musk und der Visionsvorstellungen der Anleger als Sonderfall zu sehen. Hier können nicht die gleichen Bewertungsmaßstäbe wie bei anderen IT-Dienstleistern herangezogen werden. Grundsätzlich ist allein am Beispiel von Amazon oder Alphabet zu sehen, dass große Unternehmen in verschiedenen Branchen mit Wachstumspotenzial aufgrund ihres Technologievorsprungs Fuß fassen wollen.
Was hat sich an der Struktur der für das Anlageportfolio interessanten Unternehmen durch den vermeintlichen Digitalisierungsschub während Corona geändert?
Koch: Die Börse kann für gewisse Entwicklungen oft als Frühindikator dienen. Durch die weltweiten Lockdowns infolge der Corona-Pandemie hat sich die Bewertung von IT-Unternehmen in 2020 und 2021 häufig vervielfacht. Da die Politik und die Wirtschaft im Zuge zunehmenden Home-Offices gezwungen waren, Umstellungen vorzunehmen, kam es zu einem Digitalisierungsschub, der sich nun auch in den Lieferkettenengpässen widerspiegelt. Wer also bereits frühzeitig auf Technologieunternehmen gesetzt hat, konnte bis November 2021 eine deutliche Outperformance im Depot generieren. Durch die Abkehr von der expansiven Geldpolitik und mit Blick auf die hohen Bewertungsniveaus spielen aber für das Anlageportfolio kurzfristig wieder andere Faktoren eine Rolle. Langfristinvestoren sollten aber den Baustein Digitalisierung nicht außer Acht lassen.
Gibt es einen Win-Win-Effekt, wenn Unternehmen Aktien eines IT-Anbieters kaufen, den sie auch für ihre eigene Infrastruktur nutzen und damit seinen Wert steigern?
Koch: Aus Sicht des Unternehmens kann man so eine stärkere Mitarbeiterbindung erzeugen und gleichzeitig eine gewisse Aktiengrundnachfrage schaffen. Aus dem Blickwinkel des Angestellten wird jedoch ein nicht zu vernachlässigendes Klumpenrisiko erzeugt, was oft nur bei hohem Hintergrundwissen sinnvoll ist. Für externe Investoren spielen meist nur Transaktionen des Vorstands oder des Aufsichtsrats eine Rolle.
Businessinsider schrieb Anfang März 2022 von einem massiven Einbruch bei den „digitalen Pandemiegewinnern” und einer Tech-Blase. Wie haben Sie und Ihre Kunden die letzten Wochen dahingehend erlebt?
Koch: Der Kursrückgang im Technologiesektor ist seit November 2021 festzustellen und wurde durch die angekündigten Zinssteigerungen seitens der amerikanischen Notenbanken im Januar 2022 verstärkt. Durch den Russland-Ukraine-Krieg ist aber bereits wieder ein gewissen Umdenken erkennbar. In einem breit diversifizierten und stets aktiv gemanagten Depot in unserem Hause werden diese Effekte entsprechend abgefedert. Langfristig denkende Anleger werden aber mit dem technischen Fortschritt mitgehen. Die Selektion fair bewerteter Technologietitel wird in 2022 wieder eine größere Bedeutung haben.
Der IT-Branche sagt man nicht umsonst hohe Agilität nach. Wie kann man auch als eher risikoscheuer Anleger von den Potenzialen der Branche profitieren?
Koch: Diskountstrategien und Wandelanleihen sind Beispiele für Assetklassen, die wir auch bei defensiv ausgerichteten Depots einsetzen.
Gibt es Anlagealternativen für den hiesigen Mittelstand zum klassischen Weg über die Börse – also Investitionsmöglichkeiten zum Beispiel in kleinere IT-Unternehmen, IT-Startups oder regionalere Portfolios?
Koch: Diese Alternativanlagemöglichkeiten werden beispielsweise von regionalen Banken als Fonds oder Private Equity–Vehikel angeboten. Der Nachteil dieser Anlageform ist aber im Vergleich zur börsennotierten Variante oft die geringere Transparenz. Wenn ein entsprechendes Vermögen vorhanden ist, bietet sich bei kleineren IT-Firmen auch ein Direktinvestment als Gesellschafter an.
Wenn ein Kunde gerne zukunftsträchtig UND nachgewiesen nachhaltig in IT-Werte investieren will, was raten Sie ihm dann?
Koch: Legt man die sogenannten ESG-Faktoren bei der Bewertung der Nachhaltigkeit zugrunde, dann wird man im Bereich Umwelt oftmals mit IT-Werten gut abschneiden. Daher sollte man den Fokus auf die sozialen Aspekte und die Unternehmensführung im Hinblick auf die nachhaltige Selektion wählen. Daneben sollten die vom Unternehmen veröffentlichten Aussagen nicht im Widerspruch mit unabhängigen journalistischen Beiträgen und aktuellen Gerichtsprozessen stehen.
Welche Renditepotenziale sehen Sie durch die in der aktuellen Ukrainekrise zunehmende Hackgefahr – und was bedeutet das vielleicht auch aus börsenmoralischer Sicht?
Koch: Cyber-Security stand auch schon vor der Ukrainekrise als zukunftsträchtiger Sektor im Fokus. Dieser Trend ist nun medial verstärkt worden. Die Börse bildet als Frühindikator entsprechende Entwicklungen und Kapitalströme ab – moralische Einordnungen sind daher eher jedem Investor selbst zu überlassen.
Wenn ich als Anleger auf europäische oder sogar deutsche Werte setzen will, wie beurteilen Sie Beispiele wie Cancom oder Bechtle, die ja im Fallen begriffen zu sein scheinen?
Koch: Als international ausgerichteter Vermögensverwalter haben wir die deutsche bzw. europäische Brille abgelegt. Wenn man auf Digitalisierung, Cyber-Security und technologischen Fortschritt setzen möchte, darf man sich nicht auf bestimmte heimatverbundene Unternehmen beschränken. Zudem muss man stets zwischen makro- und mikroökonomischen Faktoren unterscheiden.